Dzogchen von James Low

Der große Meister Guru Rinpoche hat gesagt:

Hundert Dinge mögen erklärt sein, Tausende erzählt,

Doch nur ein Ding solltest du festhalten.

Kenne eine Sache und alles ist befreit–

Verweile mit deiner innersten Natur,

Deinem Gewahrsein!

Der Buddhismus war in Indien schon über 1200 Jahre verbreitet als auf Ersuchen von Thrisong Deutsen, dem König von Tibet, der große tantrische Meister aus Oddiyana, dem heutigen Pakistan, nach Tibet eingeladen wurde. Padmasambhava schaffte es entgegen seinen Vorgängern den Buddhismus im 8. Jahrhundert in dem damaligen wilden und kriegerischen Land fest zu verwurzeln und leitete damit eine umfassende gesellschaftliche und spirituelle Wandlung ein. Neben den buddhistischen Grundlehren, den Sutras, und den kraftvollen und energetischen Praktiken des Tantra hatte er eine Geheimlehre im Gepäck, die ebenso geheim verbreitet wurde wie sie universell war. Auf Grund ihrer Einfachheit und Direktheit, ihrer bloßen Beschäftigung mit dem was ist, kann ihr eine grundlegende Bedeutung im 21. Jahrhundert zukommen, die Wissenschaftlichkeit und Spiritualität zu verbinden vermag.

James Low:

Dzogchen ist eine Form der spirituellen Praxis und des Umgangs mit dem Alltagsleben, die uns hilft, allem was geschieht, mit entspannter Offenheit und freudigem, aufmerksamen Interesse zu begegnen. Dzogchen versucht Menschen zu helfen, sich mit ihrer Angst vor Vernichtung auseinander zu setzen. Wenn wir im Banne des Gefühls leben, die Welt sei gefährlich und andere Menschen seien gefährlich, so sind wir ständig auf der Hut. Oft lassen wir uns aus diesem Gefühl heraus zu einer aggressiven Handlung gegen andere Provozieren—wobei wir die Provokation meist selber verursacht haben. Solche &Mac226;präventive Aggression’ kann sich in verschiedenen Formen äußern, unter anderem als Wut, als Ausbeutung, Unterdrückung oder Demütigung anderer. All dies tun Menschen ihresgleichen an, weil sie hoffen, sich dann sicherer und unverwundbar fühlen zu können. 

Tibetisches A


Nach der Dzogchen-Lehre entspringt das Bemühen, die Kontrolle über die eigene Lebenssituation zu erringen, einer Illusion. Alles was in Erscheinung tritt, vergeht auch wieder. Wenn Phänomene in Erscheinung treten, glauben wir sie würden wirklich existieren. Doch ausnahmslos alles was in Erscheinung tritt, entwickelt nie eine wahrhaft eigenständige Existenz. Dieser Prozess des Erscheinens unbeständiger Phänomene nimmt unablässig seinen Lauf, ohne jemals zu enden (Samsara), so wie sich Tag und Nacht immer neue Gedanken, Gefühle, Empfindungen und Erinnerungen entwickeln und wieder vergehen.

Während wir durch diesen Wirbelsturm der Manifestationen irren, geben wir uns der Illusion hin, dass wir es mit beständigen Subjekten und Objekten zu tun haben, mit realen Wesenheiten, die da miteinander interagieren und aufeinander einwirken. Tatsächlich fürchten wir uns vor den Schmerzen und Ängsten, die die Trennung des Subjekts vom Objekt erzeugen kann. Deshalb versuchen wir, uns ein möglichst festes und scheinbar unzerstörbares Ich zuzulegen, denn dies halten wir für den wirksamsten Schutz gegen die Unzuverlässigkeit der äußeren Objekte in ihrem nie endenden Prozess des Entstehens und Vergehens.

Doch wir können dies in einem anderen Licht sehen, wenn wir lernen die Erscheinungen so wahrzunehmen wie sie sind und erfahren, dass wir unsere Identität nicht ängstlich zu schützen brauchen. Mit Hilfe der Dzogchen-Sicht und –Meditation können wir erkennen, dass unsere gewöhnliche, alltägliche Erfahrung, dass alle Phänomene, ob sie nun innen oder außen aufzutreten erscheinen, als ein nie versiegender Strom aus dem Gewahrsein selbst hervorgehen.

Wie auch immer die Welt beschaffen sein mag, Kontakt haben wir zu den äußeren Objekten ebenso wie zu unseren Wahrnehmungen nur über unser Bewusstsein. Die Welt existiert für uns ausschließlich als Erfahrung. Wenn wir die Fähigkeit erlangen, unser Bewusstsein vollständig der Wahrnehmung der gegenwärtigen Welt zu öffnen, offenbart sich uns die Welt mitsamt ihren Bewohnern, deren Teil wir selbst sind, als „Ausdruck des Gewahrseins“. Dies ist eine fiefgründige, direkte Erfahrung, die über bloßes intellektuelles, konzeptuelles Verstehen weit hinausreicht.


Text ennommen aus James Low: „Aus dem Handgepäck eines Tibetischen Yogi“ (Theseus Verlag, Neuauflage für 2012 geplant im Wandel Verlag, Berlin), eingeleitet und zusammengestellt von A n d r e a s   R u f t für einen KGS Beitrag. Einleitender Vers von Keith Dowmans Webseite entnommen.