Dies ist das Transkript eines Vortrags von Tulku Thondup Rinpoche, den er im Dezember 2003 auf dem Gompaland nahe Siliguri in Indien hielt. Er sprach über seine Verbindung mit Chhimed Rigdzin Rinpoche, über dessen Verbindung mit seinen (C.R. Lamas) Schülern und wie wir diese wichtige Verbindung als spirituelle Linie nutzen können.
historisches Bild von Chhimed Rigdzin Rinpoche und Tulku Thondup
Tulku Thondup’s Vortrag in Indien
DEZEMBER 2003
Zuerst möchte ich ein paar Worte über die Byangter- und Khordong Linien sagen. Die Byangter Linie ist natürlich eine der Haupt-Terma Linien der Nyingma. Gestern sprachen wir über das Leben und die Linie von Guru Padmasambhava und die Terma-Tradition. Deshalb ist es nun leichter, die gter (Terma) zu verstehen, die Padmasambhava verbarg und die Jahrhunderte später von den Reinkarnationen von Schülern Guru Padmasambhavas entdeckt wurden.
Rigdzin Godem, der im vierzehnten Jahrhundert lebte, entdeckte die Lehren Padmasambhavas. Schaut auf das Bild von Rigdzin Godem (auf ein Gemälde an der Tempelwand zeigend), er hält ein quadratisches Kästchen in seiner linken Hand. Diese besondere gter-Schatulle ist die gter drom, die er in Zazang Labtrag in Westtibet entdeckte. Diese Schatulle hatte viele Unterteilungen, und in der mittleren fand er die gelben Schriftrollen (Shog Ser) des Gongpa Zangthal, die Grenzenlose Sicht von Dzogpa Chenpo. In den anderen Fächern fand er die gelben Schriftrollen verschiedener Lehren. Er transkribierte sie und übermittelte sie seinen Schülern, und dies wurden die Lehren der Byangter, eine der bedeutendsten gter-Traditionen von Guru Padmasambhava.
Rigdzin Godem wird als einer der drei oder fünf höchsten gter-Entdecker der Nyingma angesehen. Er und seine Schüler lebten in Westtibet. Wie auch immer, das war im nördlichen Teil von Westtibet, daher wurde seine Linie als Byangter oder Nördliche Schätze bekannt. Später verlegte die dritte Inkarnation von Rigdzin Godem seinen Sitz nach Zentraltibet und etablierte das Kloster Dorje Drak, das bis heute der Hauptsitz der Byangter-Linie ist.
Die Khordong-gter-Tradition ist ein Zweig von Byangter. In der Umgangssprache sagen wir “Khangdong”, obwohl die schriftliche Form “Khordong” (‘Khor gDong) lautet. Wenn ihr nach Osttibet geht und “Khordong” sagt, verstehen Euch die Leute vielleicht nicht.
Wie ihr alle wisst lebte Khordong Terchen im 19. Jahrhundert. Er war ein Zeitgenosse und Neffe des ersten Dodrupchen Rinpoche. Er entdeckte viele gter-Lehren, die meisten seiner gter fand er im Tsoo Tal. Wie dem auch sei, nach Khenpo Choeyak (einem Khenpo aus dem Kloster Shugchung, der leider vor ungefähr fünf Jahren verstarb) wurden die Sengdongma Lehren, die Lehren der Löwenköpfigen Gottheit vom Tsangchen Srinmo Felsen in der Nähe des Dodrupchen Klosters entnommen. Ich habe ein Videotape mit Aufnahmen von dem Felsen. Srinmo ist ein bemerkenswert hoch aufragender Felsen in der Nähe des Klosters. Nach Khenpos Choeyaks Aussagen war Khordong Terchen auf der anderen Seite des Flusses, flog durch die Luft, landete mitten auf dem Felsen und entnahm die Schatz-Schatulle. Dann flog er zurück auf die andere Seite des Flusses.
Jetzt gibt es bei dem Felsen eine Straße, so dass man dort jetzt fahren kann. Doch damals gab es nicht mal einen Fußweg. Deswegen musste Terchen über den Fluss und zurück fliegen, um das Schatzkästchen aus dem sehr steilen Fels zu entnehmen.
Khordong Terchen – Terchen bedeutet großer gter-Entdecker – entdeckte viele Belehrungen und die Linie seiner Lehren wurde die Khordong Linie. Aber in der Gegend wurde die Khordong Linie mehr oder weniger ein Teil der Byangter, wie Mutter und Sohn.
Ein weiterer wichtiger Tertön der Khordong Linie war Gonpo Wangyal, der ebenfalls Belehrungen als gter entdeckte. Und wie ihr alle wisst, gab es noch einen anderen erstaunlichen Meister in der Khordong Linie, das war Tulku Tshulthrim Zangpo (Tsullo), einer der größten Gelehrten, der ein Mönch war und von allen buddhistischen Schulen in Tibet respektiert und geachtet wurde.
Ich selbst gehöre der Longchen Nyingthig Linie an, die auch ein Zweig der Nyingma Tradition ist. Mein Kloster ist das Dodrupchen Kloster, das nicht zur Khordong Linie gehört, aber die Dodrupchen Linie und die Khordong Linie teilen besondere Verbindungen miteinander. Eines der Klöster der Khordong Linie, das Shugchung Kloster liegt nur 15 bis 20 Meilen entfernt vom Dodrupchen Kloster, beide im Do-Tal. Desweiteren war Khordong Terchen ein Neffe und Schüler des ersten Dodrupchen. Tulku Tshulthrim Zangpo selbst war ein Schüler des dritten Dodrupchen Rinpoche und studierte mit Khenpo Damchoe (oder Champa Ozer) des Dodrupchen Klosters. Meine vorherige Inkarnation – nicht, dass ich glaube, ich sei in meinem letzten Leben so ein großartiger Lama gewesen – hatte nicht nur eine Verbindung mit dem Khordong Kloster, sondern lebte außerdem für lange Zeit in der Einsiedelei des Shugchung Klosters. Mein Vorgänger errichtete auch eine sehr große Stupa (die inzwischen wieder erbaut wurde) im Shugchung Kloster. Sie hatten also in der Vergangenheit eine besondere Verbindung.
Drei Klöster folgen der Khordong Linie, dies sind das Khordong und das Bane Kloster, beide im Nyi Tal. Das dritte, Shugchung Kloster, ist im Do-Tal. Diese drei Hauptklöster sind wie die Säulen der Linie. Shugchung ist das größte, zu dem viele Gelehrte, darunter Tshulthrim Zangpo, gehören. Jetzt leben dort zweihundert Mönche, früher mögen es bis zu drei oder vierhundert Mönche gewesen sein. Sie waren berühmt für ihre Tradition von Liturgien, für ihre disziplinierte Ausführung von Ritualen, Zeremonien und religiösen Tänzen. Ich habe Khordong oder Bane nie besucht, war aber viele Male in Shugchung, das ein beeindruckendes wunderbares Kloster ist. Da es jedoch am Ufer des Do Flusses gelegen ist, ist es ständig von der Gefahr, überflutet zu werden, bedroht.
Als nächstes möchte ich etwas über unseren Rinpoche sagen, Chhimed Rigdzin Rinpoche. Der erste Khordong Terchen war ein großer Tertön, der viele Lehren als gter entdeckte und die Inkarnation von Kheuchung Lotsawa war, welcher einer der 25 Hauptschüler von Guru Padmasambhava war. Seine Heiligkeit Dudjom Rinpoche ist die Inkarnation von Dudjom Lingpa und Dudjom Lingpa ist ebenfalls die Inkarnation von Kheuchung Lotsa. Also sind beide, Khordong Terchen und Dudjom Lingpa Wiedergeburten desselben Schülers von Guru Padmasambhava.
Chhimed Rigdzin Rinpoche ist die dritte Inkarnation von Khordong Terchen. In meiner Jugend, in Golok hörten wir natürlich von Khordong Terchen. Aber ich war noch so jung, ich wusste nicht, dass Khordong Terchens Tulku die Gegend verlassen hatte und verschwunden war. Wir hörten oft von Khordong Terchens Enkel, Khordong Gyurmed Dorje, da dieser ein sehr berühmter Meister war. So nahm ich an, dass Khordong Terchen immer noch im Khordong Kloster sei.
Als ich 1956/57 mit Kyabje Dhodrupchen Rinpoche nach Indien kam, verbrachte ich erst ein paar Jahre in der Gegend von Sikkim, Darjeeling und Kalimphong. Eines Tages fuhr ein Jeep auf der Haupstraße Kalimphongs, darin saß diese beeindruckende Person. Ich war so erstaunt ihn zu sehen und lächelte ihn an und er lächelte zurück. Und das war alles. Ich wusste nicht, wer er war. Dann nach ein paar Tagen, als ich durch Kalimphong ging, in einem indischen Laden an der Kreuzung der Straße, die zur neunten Meile führt mit der Straße, die zur zehnten Meile führt, sah ich dieselbe Person, wie er dort saß und mit jedem redete, der vorbei kam. Dies war die größte Sraßen-Kreuzung in Kalimphong. Rinpoche schien es immer zu mögen, an der Kreuzung zu sitzen und mit den Leuten zu reden, die kamen und gingen. Er winkte mir zu, zu ihm zu kommen, was ich tat. Wir redeten lange miteinander. Er sagte mir nicht, dass er der Tulku von Khordong Terchen war oder derartiges. Er sagte nur, dass er aus Kham sei und an einem Ort namens Shantineketan lehrte. Schließlich sagte er zu mir: “Komm und besuch mich in Tirpai.”
Einige Tage darauf besuchte ich ihn in seiner Wohnung im Dorf Tirpai auf dem Hügel hinter Kalimphong. Wir unterhielten uns lange, hauptsächlich sprachen wir über mich. Selbst dann verlor er kein Wort darüber, dass er ein Tulku sei. Er sagte mir, dass er an einer Universität lehrte und wenn ich Hilfe brauchen würde, würde er versuchen, mir zu helfen. Natürlich, ich war ein Flüchtling, der gerade ein paar Jahre zuvor geflohen war, und Rinpoche war ein etablierter Professor an einer Universität in Indien. Ja, ich brauchte seine Hilfe. Er gab mir seine Adresse in Shantineketan und sagte: “Wenn du irgendetwas brauchst, schreib mir oder komm zu mir und wir werden sehen, ob ich dir helfen kann, einen Job zu finden.”
Als dann die Chinesen 1962 Indien angriffen, gingen viele Tibeter in die Ebenen Indiens. Ich verließ Darjeeling und ging nach Bodhgaya. Aus Bodhgaya schrieb ich Rinpoche und sagte ihm, dass ich in Bodhgaya sei und gern kommen würde, um ihn zu besuchen. Er antwortete sofort und lud mich ein zu kommen.
Also ging ich nach Shantineketan. Zu der Zeit war Rinpoches Tochter Surja (Nise), die viele von Euch kennen, gerade sechs Monate alt. Gleich am nächsten Tag nahm Rinpoche mich mit zum Vizekanzler, dem Oberhaupt der Universität. Mit der Empfehlung von Rinpoche, der Dekan des Fachbereichs Indo-Tibetische Studien war und des Vizekanzlers beantragte ich sofort ein Forschungsstipendium bei der Universitäts-Bewilligungs-Komission in New Delhi. Unnötig zu sagen, dass ich Monate warten musste bis die Antwort aus Delhi eintraf, dass mir ein Forschungsstipendium gewährt worden sei. So blieb ich über drei Jahre an der Visva-Bharati Universität in Shanitineketan – und lebte als ein Mitglied von Rinpoches Familie oder als ein ständiger Gast der Familie.
1976 wurde ich für den Posten einer Lehrtätigkeit an der Universität von Lucknow ausgewählt und zog nach Lucknow. Rinpoche war glücklich, dass ich den Job bekommen hatte, aber er war nicht so glücklich damit, dass ich fort ging, da wir uns alle so nahe gekommen waren, Rinpoche, Amala, die Kinder und alle. Aber natürlich war es wichtig, einen festen Job zu haben, So kamen wir überein, dass ich fortgehen sollte und so ging ich weg nach Lucknow und lehrte dort neun Jahre lang.
Ich glaube, es dauerte viele Jahre bis Rinpoche mir sagte und bis ich wusste, dass er der Tulku von Khordong Terchen sei. Natürlich wussten wir alle, dass er ein sehr besonderer Lama war, eine einzigartige Person, aber wir wussten nicht, wer er wirklich war. Wenn man einfach nur mit ihm zusammen war, fühlte man, dass er nicht nur ein Professor war, ein Lehrer oder Freund, sondern eine ganz erstaunliche Person.
Ich denke, ihr alle müsst gefühlt haben, dass Rinpoche eine tief beeindruckende Ausstrahlung, unglaubliche Macht und Kraft besaß, und erstaunliche Sicherheit ausstrahlte. Ja, manchmal war er ziemlich grob, heftig und zeigte seine Laune. Aber man konnte immer seine enorme Liebe und Güte spüren, egal was er gerade sagte oder tat. Das wunderbare ist, dass er in einem Moment auf jemanden schimpfen oder ärgerlich sein konnte, um sich aber im nächsten Moment umzudrehen und mit allergrößter Liebe und Güte zu lächeln. Wenn wir ärgerlich oder aufgeregt sind, dann brauchen wir Zeit, um uns wieder zu beruhigen und friedlich zu werden, bevor wir lächeln können. Er jedoch konnte gleichzeitig zornvoll und mitfühlend sein. Auf der einen Seite konnte er seine zornvolle Form manifestieren und auf der anderen Seite seine mitfühlende, liebevolle und friedvolle Form ohne eine Spur von Ärger.
Zu jener Zeit habe ich nicht besonders über all dies nachgedacht. Doch später verstand ich, dies bedeutete, dass für Rinpoche alle Dinge nur ein Schauspiel sind, ein Display oder eine Show. Alle Dinge sind in Gleichheit so wie die Köpfe eines zornvollen Buddhas in letztendlichem Frieden vereint sind. In seinem Herzen oder Geist war er nicht zornig, sondern spielte dies an der Oberfläche jeweils für einen Zweck, so wie ein zornvoller Buddha Bilder manifestiert.
Was bedeutet ein zornvoller Buddha? Wir sehen all diese zornvollen Bilder von Buddhas (Rinpoche deutet um sich herum auf den Tempel). Aber in Wahrheit haben zornvolle Buddhas neun Qualitäten: Ihre Körper sind zornvoll, heroisch und furchterregend. Ihre Stimmen sind lachend, drohend und wild. Doch im Geist sind sie liebevoll, friedvoll und mächtig. Wie alle erleuchteten Wesen sind sie im Geist friedvoll, mitfühlend, freudig und weise. Wenn ein Wesen äußerlich zornvoll und ebenso zornig im Herzen ist, dann ist das ein wirkliches Ungeheuer – kein Buddha. Zornvolle Buddhas sehen zornvoll aus für einen Zweck:, um negative Kräfte zu befrieden, zu zähmen. Solche Bilder sind manchmal notwendig, um negative Kräfte zu befrieden usw. Deshalb zeigte Rinpoche hier und dort seine zornvolle Seite, obwohl er ein friedvoller, gütiger und liebender Mensch ist. So war er.
Wie ich zuvor sagte, war Rinpoche auch mächtig. Zum Beispiel war seine Tochter Norzin (Laxmi) einmal für einige Tage im Krankenhaus. Sie sagte, Rinpoche an ihrem Bett zu haben, war für sie die allerbeste Medizin, die sie haben konnte, all ihre Ängste verschwanden. Er hatte eine erstaunliche Macht, die Sicherheit, Zuversicht, Kraft und Weisheit ausstrahlte. Ich denke, viele von Euch wissen, worüber ich rede. Er hatte eine erstaunliche Voraussicht – was zu tun war und was nicht zu tun war – nicht nur spirituelle Dinge betreffend, sondern auch gewöhnliche, weltliche Dinge. Er erfreute sich dieses erstaunlichen Weisheitsgeistes, der voraussehen konnte, was man tun sollte etc.
Noch etwas wichtiges, das ich gern mit Euch teilen möchte und wovon ich hoffe, dass ihr euch daran erinnern werdet. Verschiedene Lehrer haben unterschiedliche Weisen zu lehren, funktionieren auf unterschiedliche Art und Weise, um ihren Schülern zu helfen. Einige lehren und helfen auf Straßen und Märkten. Andere leben in Höhlen und Einsiedeleien und meditieren und beten. Wieder andere lehren gelehrte Texte – diesen Text, jenen Text – und betonen das studieren intellektueller und gelehrter Inhalte in Büchern. Natürlich ist all dies wunderbar. Andere Lehrer lassen ihre Schüler jahrelang über die Natur des Geistes kontemplieren. Und wieder andere weisen ihre Schüler an, viel zu rezitieren. Und natürlich war Rinpoche ein Gelehrter und er lehrte auch gelehrte Texte. Doch er legte am meisten Gewicht, legte seinen Fokus auf Rituale, Zeremonien. Durch Ritual, durch Zeremonien, durch hingebungsvolle Gebete übermittelte er anderen seine eigene Macht, teilte er seinen eigenen Segen mit anderen und seinen eigenen Weisheitsgeist mit dem Geist seiner Schüler. Und durch Zeremonien verhalf er seinen Schülern zu spirituellen Erfahrungen und half ihnen, in sich Weisheit, Mitgefühl, Vertrauen und andere Qualitäten zu erwecken.
1980 ging ich schließlich in die Staaten und sah Rinpoche danach nur noch selten, so dass ich nicht weiß, auf welche Weise er dann lehrte. Zuvor jedoch, wenn Rinpoche Rituale ausführte – in den frühen Tagen hatte er nicht viele Schüler – aber wer auch immer dabei war, viele von denen hatten erstaunliche Erfahrungen. Sie erlebten eine Art Erwachen spiritueller Verwirklichung, Energie, Macht, Weisheit – wie immer man es nennen möchte – während der Rituale, in den Zeremonien, in den Tshog Zeremonien und besonders während sie das Sieben Zeilen Gebet sangen. Dies also war Rinpoches Medium, sein Kanal, durch den er andere erreichte und ihnen half. Und ich glaube, dass viele von Euch, die ihr seine Schüler seid, dies erlebt habt und dass Rinpoche Euch auf diese Weise geholfen hat.
Wenn ihr eine Ebene spiritueller Erfahrung gespürt habt oder Euch friedvoller als sonst gefühlt habt, eine Art mächtiger Energie oder sogar einen Einblick in die Natur des Geistes erlebt habt – was immer ihr in den Pujas gefühlt habt – das ist eine Übertragung und das wird euch helfen. Doch es wird euch nur helfen, wenn ihr daran festhaltet, es erhaltet und es benutzt. Wie könnt ihr es nutzen? Indem ihr euch erinnert. Erinnerung ist ein sehr mächtiges Mittel. Zum Beispiel, wenn Rinpoche während seiner Belehrungen Segen gab oder ihr Pujas gemacht habt – wenn ihr ungewöhnlichen Frieden erfahren habt, Freude oder Wärme, dann solltet ihr im Geist dahin zurückgehen. Ihr solltet euch daran erinnern: “Wie habe ich mich damals gefühlt? Wie war das?” Und wenn du diese Erfahrung jetzt nicht fühlen kannst, dann versuche, die ganze Situation zu visualisieren – welche Leute da waren, welche Gebete gesungen wurden, wie Rinpoche dasaß, wie er und ihr alle gesungen habt und wie der Prozess bis zu der spirituellen Erfahrung verlief. So könntest du durch erinnern und visualisieren, durch die Kraft von Erinnerung und Achtsamkeit diese Erfahrung zurückbringen.
Wenn du diese Erfahrung zurückgeholt hast, solltest du darauf meditieren, darin verweilen und dabei bleiben. Wenn du mit dieser Erfahrung, diesem spirituellen Segen verweilst, dann werden sie stärker und lebendiger. Und eines Tages könnten sie zu deinem Leben werden bei Tag und bei Nacht. Und dann wird diese friedvolle Erfahrung nicht nur hilfreich sein, sondern sie wird dich auch zu höheren und intensiveren spirituellen Erfahrungen führen. Es ist also sehr wichtig, das Medium, in das dein Lehrer dich eingeführt hat, nicht zu verlieren. Denn Rinpoche ist ein besonderer Lehrer – nicht irgendein Lehrer. Wie wir gestern besprachen, wurden Guru Rinpoches Schüler zu erwachten Meistern, nachdem er ihnen Belehrungen übermittelt hatte. Später kehrten sie als gter-Entdecker zurück, nicht unter dem Zwang von Karma, nicht weil sie karmische Schulden zu begleichen hatten, sondern um Guru Padmasambhavas Anhängern und den Mutter-Wesen zu dienen. Große Lehrer wie Rinpoche sind besondere, einzigartige Lehrer und wir sollten diese wunderbaren Erfahrungen und Möglichkeiten, die wir haben, nicht loslassen. Manchmal fühlst du vielleicht:” Oh, mein Lehrer ist weg. Ich muss einen anderen Weg finden.” Ja, das ist auch gut. Doch wenn wir solch einen goldenen Schatz empfangen haben, sollten wir nicht nach einem anderen Stück Stein oder Fels Ausschau halten, um unsere emotionalen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern einfach bei diesem goldenen Schatz bleiben. Das ist für mich einer der Punkte, um die es mir geht.
Dieselben Dinge habe ich auch einigen Schülern von Rinpoche in Europa erzählt. Hier sind nur wenige von euch, aber ich möchte sagen, dass ich es besonders schätze, dass ihr hierher gekommen seid, denn ihr habt viel Geld ausgegeben und Zeit darin investiert, hierher zu kommen. Und ihr seid hierher gekommen, weil dies ein sehr wichtiger Ort für Rinpoche ist und dieser Ort Rinpoche repräsentiert.
Chhimed Rigdzin Rinpoche und Tulku Thondup in New Jersey, 2001
Als ich Rinpoche zum letzten Mal in Amerika, in New Jersey, traf, sagte ich ihm: “Du solltest dich irgendwo in Europa aufhalten, weil es in Europa vielleicht gesünder ist mit besseren Möglichkeiten und besseren Behandlungen. In Siliguri ist es heiß und es gibt viele Mücken.” Aber er sagte: “Nein. Ich muss zurückgehen, um den Tempelbau zu beenden.” Sein Fokus, das Ziel seines Lebens, vielleicht das letzte Ziel in seinem Leben war auf diesen Ort konzentriert und darauf, den Bau des Tempels zu vollenden. In gewisser Weise ist dieser Tempel seine Reinkarnation, sein Tulku. Dieser Ort ist seine Kreation auf geistige, emotionale, spirituelle Weise und natürlich auch physisch. Dies ist sehr wichtig für all seine Schüler, Freunde, Familie – die Mitglieder von Rinpoches Sangha. Dies ist nicht nur ein Tempel mit hübschen Gemälden und Statuen. Es hat mehr Bedeutung, Essenz und Qualitäten. Dies ist Rinpoche, Rinpoche selbst in vielerlei Hinsicht. Dies ist, was er für seine Schüler zurücklassen wollte. Und Tulku Urgyen und Sashi arbeiten unermüdlich dafür und viele haben so sehr geholfen, den Tempel fertig zu stellen.
Rinpoche verbrachte seine letzten Jahre damit, an diesen Ort zu denken, ihn zu erträumen und sich vorzustellen, nicht für ihn selbst, er würde gehen, wofür sollte er einen Tempel benötigen? Und nicht für die Finanzen seiner Familie, denn sie wären in dieser Hinsicht mit einer anderen Arbeit besser daran gewesen als damit, all ihre Zeit und Energie in den Bau des Tempels zu stecken. Sondern für alle, die ihm folgten, für die Schüler seines spirituellen Lebens. Dies also ist Rinpoche (deutet um sich herum).
Es ist wunderbar, dass viele von euch hierher gekommen sind und an Rinpoche und seinen Tempel gedacht haben. Ich bin sicher, dass hunderte von Rinpoches Schülern gern gekommen wären, aber dies ist nicht leicht. Ich weiß, dass in Europa so viele Schüler von Rinpoche große Hingabe haben und dass diese alle hier sein möchten. Doch alle haben Belastungen und Stress usw. Deshalb konnten sie nicht kommen. Und obwohl ihr hier nur wenige Schüler seid, seid ihr mit totaler Hingabe und Liebe für Rinpoche hierher gekommen und ich schätze es sehr, dass ihr hier seid. Außerdem repräsentiert ihr auch die Liebe all eurer Vajra-Brüder, -Schwestern und Freunde.
Buddha selbst sagte in einem Sutra, dass Leute, die in den Zeiten des Verfalls des Buddhismus, in den dunklen Zeitaltern, praktizieren und ihr Leben dem Dharma widmen, mehr Verdienste ansammeln als Leute, die im goldenen Zeitalter des Buddhismus praktizieren. Dies ist ganz ähnlich hier. Zu versuchen, jetzt hierher zu kommen, Rinpoches Tempel jetzt zu dienen, zu meditieren, zu praktizieren, Rinpoches Rat jetzt zu folgen, wo Rinpoche nicht mehr hier ist und Rinpoches Linie schwach ist, am schwächsten ist, dies wird mehr Verdienste bringen, mehr Kraft haben und Rinpoche mehr gefallen als wenn du damals praktiziertest, als Rinpoche hier war und alles am blühen war. Denke nicht: “Oh, jetzt ist Rinpoche nicht mehr hier, meine Praxis wird nicht soviel Kraft haben,” usw. Stattdessen solltest du denken und fühlen: “Oh, wie wunderbar! Ich praktiziere und dies wird Rinpoche mehr erfreuen als zuvor, als er am Leben war. Und meine Praxis wird jetzt mehr Kraft haben als zuvor, weil dies eine Zeit von großer Bedürftigkeit für die Tradition, für Rinpoches Linie ist.”
Bitte versucht euch an diese beiden Punkte zu erinnern. Einer ist, Rinpoches Art zu erkennen, durch Pujas, Gebete, Anrufungen und Hingabe zu lehren. Auf diese Weise wirst du das Ziel der Errungenschaft erreichen, ob es nun hohe Verwirklichung ist oder die Erfahrung von Frieden, von Mitgefühl, die Natur des Geistes erkennen, usw. – Leute sind verschieden und haben verschiedene Ergebnisse. Rinpoches Pfad von Ritualen, Gebeten, dem Sieben Zeilen Gebet, Guru Rinpoches Mantra, dem Bild von Guru Rinpoche, dies ist, was Rinpoches lehrte, Rinpoches Pfad.
Zweitens, dies ist eine schwache Zeit für Rinpoches Linie und selbst, wenn du nur ein wenig praktizierst, wird dies mehr Kraft haben. Bitte denkt an diese beiden Punkte, und wenn ihr zurückkehrt und dies mit anderen Freunden teilt, könnte dies einigen helfen.
Als Rinpoche starb, ist er nirgendwo hin gegangen. Rinpoche ist die letztendliche Natur, die allumfassende Natur und Rinpoches Gegenwart ist überall, in dir und um dich herum – wie der Raum. Raum ist überall, innerhalb und außerhalb von uns. Genauso ist die letztendliche Natur, die erleuchtete Natur überall vorhanden. Und wenn ein Meister wie Rinpoche stirbt, verschmilzt er mit der universellen Natur. Das bedeutet, das Rinpoche überall gegenwärtig ist.
Wie dem auch sei, wir benötigen Symbole, Objekte, wir brauchen eine Quelle von Segen, dieses Bild oder jenes Bild, diesen oder jenen Ort, diesen Lehrer oder jenen Lehrer. Wir brauchen dies wegen unserer dualistischen und materiellen Gewohnheiten. Ich war nicht hier als Rinpoche hier war, aber Leute haben mir erzählt, dass Rinpoche immer an der Tür saß und auf die Leute wartete, die ein- und ausgingen. All diese Dinge sind wie Symbole, wie Zeichen, dass Rinpoche sagt: “Ich warte immer an der Tür auf Euch. Ich heiße Euch an der Tür zum Tempel willkommen”. Welche Tür? Die Tür zum Tempel. Was für ein Tempel? Der Tempel spiritueller Errungenschaften und positiver Qualitäten. Wenn ihr über all diese Symbole nachdenkt, das sind alles Belehrungen. Dies ein wunderbarer Ort der Liebe, der spirituellen Erinnerungen und spirituellen Übertragungen – die wirkliche Gegenwart von Rinpoche und die mitfühlenden Aktivitäten von Rinpoche. Deshalb sollten wir diese Symbole und Bedeutungen am Leben erhalten.
Dann haben wir auch die Orte in Europa, die Rinpoche gesegnet hat, und es gibt dort verschiedene Sangha-Gruppen. Und ich hoffe und bete, dass sie alle in Gruppen zusammen praktizieren, miteinander teilen, einander helfen und einander an der Hand halten auf der spirituellen Reise, dem spirituellen Pfad von Rinpoche. Und obwohl sie alle an verschiedenen Orten praktizieren, ist dies doch in vielerlei Hinsicht der Fokus.
Rinpoche war in all diesen Jahren wie ein Vater oder älterer Bruder für mich, besonders am Anfang, als ich als Flüchtling nach Indien kam, die Sprache nicht kannte, das Essen nicht aß, die Temperatur nicht ertragen konnte usw. Die ganze Zeit half er mir wie ein Vater. Und Rinpoches Kinder dachten alle ich sei ihr Onkel. Später fanden sie heraus, dass ich nicht ihr wirklicher Onkel war, aber ich war wie ein Onkel. Wir lebten zusammen, wir wuchsen zusammen. Für mich persönlich ist Rinpoche sehr wichtig. Dann wurde Rinpoche für so viele Leute wichtig. Und so viele Leute halfen Rinpoche, seine Lehren zu verbreiten und seine Träume zu verwirklichen. Es ist so wunderbar, dies zu wissen und sich daran zu erinnern. Und deshalb fühle ich mich nicht nur Rinpoche so nahe, sondern auch all seinen Schülern, von denen ich viele getroffen habe und viele nicht getroffen habe. Doch wo immer sie sind, ich fühle mich ihnen nahe und bin ihnen dankbar, dass sie Rinpoche gedient haben, Rinpoche geholfen haben und jetzt der Familie helfen, den Tempel zu unterhalten und fertig zu stellen. Ich bin euch allen sehr dankbar. Wenn ihr dies anderen erzählen könntet, sagt ihnen bitte, dass ich allen Schülern und Helfern sehr dankbar bin, die finanziell, spirituell, medizinisch geholfen haben. Leute haben Rinpoche auf so viele Weisen gedient. Und dann bin ich natürlich der Familie dankbar. Amala ist wie eine Mutter zu mir, sie ist bei uns und mehr oder weniger gesund, das ist wunderbar. Und Rinpoches Kinder, besonders Tulku Urgyen und Sashi dafür, dass sie alle diese Träume von Rinpoche verwirklicht haben und darum kämpfen, Rinpoches Träume am Leben zu erhalten.
Last mich etwas über Tulku Urgyen und Tulku Migmed sagen. Wie ihr wisst ist Migmed Rinpoches älterer Sohn, der nun in Delhi lebt. Ich habe gehört, dass als er ein Kind war, einige Lamas von Tibet nach Kalimphong kamen und Migmed als Tulku anerkannt haben. Doch Rinpoche weigerte sich, ihn nach Tibet gehen zu lassen. Wenn Migmed nach Tibet gegangen wäre, wäre er vielleicht nicht am Leben geblieben. Daher wurde er nicht als Tulku inthronisiert, obwohl er als solcher anerkannt worden war.
Ich glaube, Rinpoche kehrte zweimal nach Osttibet zurück und nach der ersten oder zweiten Rückkehr erzählte er mir, dass Urgyen als Tulku eines großen Lamas anerkannt worden sei, der denselben Namen hatte, Urgyen Chemchog, bekannt als Urgyen Chemchog aus dem Kloster Shichen. Das Kloster Shichen, das sich in der Gegend von Golok befindet, gehört nicht zur Khordong Linie. (Leute verwechseln Zhechen und Shichen. Zhechen ist das Kloster von Khyentse Rinpoche in Tibet und ebenso in Nepal nahe dem Boudhanath Stupa). Das Khordong Kloster und das Shichen Kloster kamen überein, dass Urgyen nicht ins Shichen Kloster gehen müsse, falls oder wenn Urgyen nach Tibet zurückkehren sollte. Dann hatten sie eine einfache Zeremonie, in der Roben und Kataks geopfert wurden.
Wie dem auch sei, Urgyen und Sashi arbeiten sehr hart. Doch nun – ich denke, dass habt ihr alle verstanden – kommen weniger Schüler und weniger Beiträge. Was machen wir also nun mit diesem Kloster, diesem Tempel? Auch nur ein einziger Tempel mit diesen Bildern, Gemälden, der Bibliothek und Rinpoches Segen wird eine ungeheure Quelle des Segens für dieses Land und die Welt sein. Das ist prima. Doch wenn wir diesen Ort zukünftig für Belehrungen, für Meditation, für Zeremonien nutzen könnten – wie ein lebendiges Kloster – das wäre von noch größerem Nutzen. Wir alle haben diesen Wunsch oder Traum. Tulku Urgyen ist am kämpfen und hat Alpträume wegen dieser schweren Last. Wie kann dies geschehen? Früher gingen die Leute zum praktizieren in eine Höhle, in den Wald, in ein Kloster oder einen Tempel auch wenn sie dort nur sehr wenig zu essen hatten. Sie waren zufrieden, wenn sie nur dort sein und meditieren konnten.
Doch die Zeiten sind heute anders. Wenn wir jemand einladen hierher zu kommen, um zu meditieren, zu beten, zu lehren oder zu studieren, werden sie fragen: “Wie kann ich leben? Wie kann ich Essen bekommen? Wie kann ich Unterstützung bekommen?” Das ist ein großes Thema geworden. Deshalb müssen wir dies zu einem funktionierenden, lebendigen Ort machen. Wir brauchen Gelder, wir brauchen Unterstützung. Aber nicht nur Geld ist nötig, Leute sollten hierher kommen und hier meditieren, sich an den Praktiken beteiligen. Wenn sie sich dies nicht leisten können, ist dies natürlich völlig verständlich. Doch wenn sie es sich leisten können, dann sollten sie wenigsten einmal im Jahr für eine Woche, einen Monat oder solange sie können für Gebete, Meditation, Praxis, Zeremonien hierher kommen. Sie könnten auch Zeremonien sponsern oder Praktiken und Studien für andere, die praktizieren möchten. Wenn ihr all diese Dinge erinnern könntet, das wäre wunderbar.
Diese wenigen Dinge wollte ich euch und auch unseren Freunden in Europa sagen, denn ich weiß, dass dort so viele wundervolle Schüler von Rinpoche sind.
(Redigiert von Tulku Thondup Rinpoche und Lydia Segal, transkribiert und ins Deutsche übersetzt von Hilke Zimmermann.)