Der große Bewußtseinshalter und Schatzfinder Ngödrup Gyaltsen war die Reinkarnation von Nanam Dorje Dudjom und eine der drei höchsten Emanationen1). Er wurde am Dienstag, den 11. Februar 1337 (zehnter Tag, Monat der Wunder, Jahr des weiblichen Feuer – Ochsen, sechster Zyklus)2) – von außerordentlichen Zeichen begleitet, in den Haushalt des Namolung geboren, der sich von der Gegend von Thoyor Nakpo bis nordwestlich des Trazang – Berges erstreckte. Er war der Sohn des Meisters Düdül, der zu einer ungebrochenen Linie verwirklichter Meister von Vajrakila gehörte, ausgehend von der Sippe des Horpa König Kurser3). In Übereinstimmung mit einer Prophezeiung wuchsen Ngödrup Gyaltsen drei Geierfedern vom Scheitel seines Kopfes, als er zwölf Jahre alt war, und fünf im Alter von vierundzwanzig. Deshalb wurde er allgemein als der “Bewußtseinshalter mit den Geierfedern” bekannt. Während seiner Jugend erreichte er die Grenzen von Studium, Reflektion und Meditation aller Lehrzyklen der Nyingmapas, die die Lehren seiner Vorväter waren.
Ein Zangpo Trakpa aus Manglam, der in Gyang Yönpolung acht Themen der Lehre entdeckt hatte, darunter die Essentielle Inhaltsliste, die die Essenz der Esoterischen Anweisungen in Sieben Abschnitten behandelt (sNying-Byang Man-Ngag gNad-Kyi Don bDun-Ma). Er erkannte, daß diese Texte als Hilfen zu den in Lhadrak zu enthüllenden Schätzen gebraucht wurden und bot sie daher dem großen Bewußtseinshalter Godemchen an, indem er sie ihm durch Tönpa Sonam Wangchuk schickte. Dementsprechend fand Rigdzin Godemchen am Sonntag, dem 19. April 1366 (achter Tag, Schlangenmonat, Jahr des Feuer-Pferdes)4) auf dem Gipfel des Trazang-Berges bei den drei Steinsäulen den Schlüssel zu den drei großen und hundert kleineren Schätzen, und an deren Stelle verbarg er einen Ersatzschatz. Dieser Schatzgrund, der dann so belassen wurde wie er war, ist heute als Lungseng, “Windige Senke” bekannt. Sogar heutzutage sprießen neue Keimlinge dort zu Beginn jeden Jahres.
In der Abenddämmerung am Sonntag, dem 14. Juni (vierter Tag, Schafmonat) desselben Jahres [1366] entdeckte Rigdzin Godemchen auf dem Hang des Tukdrül Pungdra Berges in einer quadratischen blauen Kiste einen großen, tiefgründigen Schatz, der fünf Schatzkammern mit getrennten Abteilungen enthielt. Aus dem kastanienbraunen Kern der Schatzkammer in der Mitte entnahm er drei Papierrollen und drei Kilas, die in kastanienbraune Seide gewickelt waren; aus der östlichen, weißen Kammer aus Tritonmuschel die Lehre, die die ursächlichen und fruchttragenden Aspekte der Handlungen ermittelt, deren Einsicht so weit ist wie der Himmelsraum (Las rGyu-‘Bras La-Zlo-Ba’i Chos dGongs-Pa Nam-mKha’ Dang mNnyam-Pa); aus der gelben Schatzkammer des Südens, die aus Gold war, den Lehrzyklus der Vier Aspekte Ritueller Praxis und Errungenschaften, der strahlt wie die Sonne und der Mond (bsNyen-sGrub rNam-Pa bZhi’i Chos-sKor Nyi-Zla-lTar gSal-Ba); aus der roten, kupfernen
Schatzkammer des Westens die Lehre des glücksverheißenden Zusammentreffens, die wie ein Sandelholzbaum ist (rTen-‘Brel-Can-Gyi Chos Tsan-Dan-Gyi sDong-Po lTa-Bu); und aus der schwarzen eisernen Schatzkammer im Norden die Lehre, die Feinde und Behinderer zu Staub zermahlt, und die wie eine giftige Pflanze ist (dGra-bGegs Thal-Bar rLog-Pa’i Chos Dug-Gi sDong-Po lTa-Bu). Kurz gesagt, er fand zahllose Lehren, von denen Direkt die Verwirklichung Samanabhadras Zeigen (Kun-bZang dGongs-Pa-Zang-Thal) die wichtigste ist, und zeremonielle Gegenstände. Da jede der fünf Schatzkammern einhundert Lehrthemen enthielt, waren es zusammen fünfhundert. Er ordnete sie auf gelbe Papierrollen nach Haupt- und Nebenthemen und verteilte sie unter würdigen Empfängern. Auf diese Weise verbreiteten sich seine Belehrungen in allen Regionen Tibets.
Allgemein gesagt existieren alle diese tiefgründigen Schätze nur als ein Mittel, um Glück und Zufriedenheit [des Volkes] Tibets und Khams während dieses und zukünftiger Leben zu vermehren. Doch im besonderen enthält dieser Nördliche Schatz (Byang-gTer) ausnahmslos alles, was irgendjemand benötigen könnte, um die Lehren zu vermehren, eindringende Armeen zurückzudrängen, infektiöse Krankheiten zu beenden, Bürgerkriege zu befrieden, Gongpo5) Geister auszutreiben, Regierungsautorität wiederherzustellen und Epidemien und Seuchen zu kontrollieren. Er beinhaltet verschiedene Wege, das Glück in Tibet – im allgemeinen und im besonderen – von Khyunglung Ngülkar in Tö [Westtibet] bis Longtang Drölma in Mekam [weit im Osten Tibets] zu fördern, und ebenso Erwähnungen und Schlüssel vieler heiliger Orte und Gegenden, von denen sieben große verborgene Länder am wichtigsten waren. Deshalb ist dieser eine Schatz allgemein dafür bekannt, einem Minister zu gleichen, der wohltätig ganz Tibet und Kham dient.
In seinem späteren Leben ging Godemchen nach Sikkim und öffnete das Tor zu diesem heiligen Land. Chokdrupde, der König von Kungtang, verehrte ihn als seinen Guru und indem er dies tat, förderte er das Glück und die Zufriedenheit Tibets. Als Rigdzin Godem in seinem zweiundsiebzigsten Lebensjahr [1408] die Vollendung seiner Taten erreicht hatte, löste sich seine Intention – begleitet von vielen wunderbaren Zeichen – in die Weite der Realität auf.
Der Fluß der Lehren, der durch die Linien seiner Söhne, seiner Gefährtin und seiner Schüler überliefert wurde, setzte sich ohne Einbuße bis zum heutigen Tag fort. Innerhalb der Linie dieser Lehre waren viele, die in den Regenbogenkörper übergingen und viele, die verwirklichte Meister wurden. Während der Zeit von Rigdzin II, Lekdenje, der der zweite Godemchen war und von Trashi Topgyal Wangpoide, dem Meister der Nördlichen Schätze, der die Reinkarnation von Ngari Pancen war, wurde die gesamte klösterliche Gemeinschaft ihrer Shedra zu einem Wanderlager infolge der Verwüstungen von Zhingshakpa, dem Herrscher von Tsang6).
Deshalb wurden sie bekannt als Evamchokgarwa, “die Lagertruppen des Evam-Turms”. Während Rigdzin III, Ngagi Wangpo lebte, der der Sohn jenes Meisters der Nördlichen Schätze war, wurde der Sitz des Klosters in Zentraltibet wiederhergestellt und wurde allgemein berühmt als Thubten Dorje Drag. Rigdzin IV, Zhapdrung Padma Trinlae, vermehrte dort in großem Ausmaß die erleuchtete Aktivität der drei Bereiche [Auslegung, Verwirklichung und Arbeit], so daß es zu einer Quelle der Tradition der Frühen Übersetzungen wurde. Bis zum heutigen Tag wurde der Sitz von Thubten Dorje Drag von den nachfolgenden Emanationen von Rigdzin Godemchen und anderen aufrechterhalten. Dementsprechend gab es von Ladak in Tö Ngari bis hin zu Dartsedo im unteren Gyelmorong sehr viele Dharmazentren, die dieser Linie der Lehre angehören.
Fußnoten
1 Emanationen Padmasambhavas; die anderen beiden höchsten Emanationen waren Nyima Özer und Guru Choe Wang. Anm. d. Übers.
2 Das hier angegebene Datum entstammt der Tshurpu – Schule, die andere Möglichkeit nach der Berechnung der Phakpa-Schule wäre Sonntag, der 12. Januar 1337.
3 Kurser ist der legendäre Horpa-König, der eine wichtige Rolle im Gesar – Epos spielt. Siehe Stein, Recherches sur lepopee et le barde au tibet, index, S. 600, unter “Gur-ser (E), roi des Hor”.
4 Tshurpu – Berechnung, wie oben erläutert. Sowohl der Tshurpu- als auch der Phakpa-Schule entsprechend ist der Schlangenmonat der vierte (demgegenüber ist er der zweite gemäß der Phukpa-Schule.
5 Über die Gongpo (‘gong-po), siehe bes. Nebesky-Wojkowitz, Orakel und Dämonen Tibets, S.283-5
6 Der Herrscher von Tsang, Zhingshakpa Tsheten Dorje unterstützte aktiv den Karmapa und verfolgte die Anhänger der Nördlichen Schätze (byang-gter). Infolgedessen wurde er durch Cangdak Trashi Topgyel in eine höhere Ebene der Existenz “befreit”. Siehe Dudjom Rinpoche, rgyal-rabs, S.492-3.
*) aus: The Nyingmapa School of Tibetan Buddhism: Its Fundamentals and History / Dudjom Rinpoche, übersetzt und editiert von Gyurme Dorje in Zusammenarbeit mit Matthew Kapstein, deutsche Übersetzung Hilke Zimmermann