3. Tulku Thondup Rinpoche zum Thema: Philosophie von Sutra

Das Verständnis der grundlegenden Philosophie des Buddhismus ist erforderlich, um die esoterische Dimension der Religion zu erfassen, in der wir die Philosophie, Tradition und auch den kulturellen Zusammenhang der Termas finden.
Es folgt ein kurzer Abriß der Mahayana-Philosophie nach der Prasangika-Madhyamika-Schule. Die tibetischen Gelehrten und Schulen unterscheiden sich in der Interpretation der Prasangika-Sichtweise. Das Folgende ist eine Zusammenfassung der Auslegung von Long Chen Rab Jam (1308-1363), dem größten Gelehrten der Nyingmapa-Schule, wie er sie in Yid Zhin Dzod Drel Pe Ma Kar Po dargelegt hat. Um die Prasangika-Philosophie vollständig zu verstehen, muß man mit den Originaltexten und den kontrastierenden Sichtweisen der sie interpretierenden Gelehrtenschaft vertraut sein.
Im Gegensatz zu anderen Schulen wird von den Verfechtern des Prasangika keine der Theorien in keiner der vier Erscheinungsformen, die als die vier Alternativen der Existenz bekannt sind, akzeptiert oder präsentiert: es ist, es ist nicht, es ist und ist nicht, weder ist es noch ist es nicht. Indem man eine Position bezieht oder eine Theorie präsentiert, die unter eine der vier Erscheinungsformen fällt, legt man sich selbst fest oder haftet einer Theorie an. Das führt zu gegensätzlichen Standpunkten und es produziert eine Theorie, die den Nachteil hat, daß sie verteidigt werden muß. Prasangika-Anhänger vernichten lediglich die Theorien anderer und lehnen sie ab. Die grundlegenden Theorien, die vernichtet werden müssen, sind diejenigen, die eine der extremen Ansichten von Substantialismus oder Nihilismus vertreten. Der Substantialismus behauptet, es existiere eine universelle Wesenheit, die Phänomene erzeugt. Der Nihilismus leugnet die Existenz solch einer zugrundeliegenden Substanz. Die Methode der Prasangika-Anhänger ist, die Konsequenzen der Sichtweisen Anderer zu exponieren, ohne ihre eigenen darzulegen.
Nagarjuna sagte in seiner Vigrahavyavartanikarika:
Wenn ich eine Theorie dargelegt habe,
Dann habe ich mich geirrt.
Aber ich habe keine Theorie akzeptiert;
Ich bin gänzlich frei von jeglichem Tadel.
Diese Philosophie wird verständlich durch die Einführung von zwei Kategorien: die absolute Natur und die konventionelle Ebene.

ABSOLUTE NATUR

In der absoluten Natur gibt es keine Unterteilung in relative und absolute Wahrheit. Diese Unterteilung wird nur auf der relativen oder konventionellen Ebene getroffen. Auf der absoluten Ebene gibt es keine zwei Wahrheiten. Man könnte sagen, es gibt nur die absolute Wahrheit. Aber relativ und absolut sind nur in ihrer Beziehung zueinander gültig. Wenn die Unterteilung nicht mehr vorgenommen wird, sieht man, daß die Wahrheit nicht einmal als absolut bezeichnet werden kann. ‘Absolut‘ kann jedoch auch für sich selbst allein stehen, und die nicht-differenzierte Natur der Wahrheit bezeichnen. Die absolute Bedeutung ist der meditative Zustand einer realisierten Person, der erleuchtete Zustand eines Buddhas und die absolute Natur aller existierenden Phänomene.

Die relative Wahrheit oder der konventionelle Aspekt ist die Realität, wie sie vom irregeführten Geist wahrgenommen wird. Sie ist das Objekt des Geistes und der Sinnesfunktionen eines normalen Menschen. Der absolute Aspekt ist die Realisation der Weisheit der unterscheidenden Bewußtheit. Keiner der beiden Aspekte besitzt eine innewohnende Realität, denn die Objekte von Geist und Sinnen sind trügerische Wahrnehmungen, eher zufällig als wirklich real, während die unterscheidende Bewußtheit des Weisheitsgeistes die Leerheit der Wesen und Phänomene erkennt, ihre essentielle Nicht-Realität. Es heißt, daß beide Aspekte der Wahrheit frei sind von den Extremen von näherer Ausfeilung und Beurteilung, denn wenn etwas in Faktoren und Qualifikationen ausgefeilt wird, dann fällt das, was wahrgenommen wird unter eines der Extreme der Existenz: Sein, Nicht-Sein, sowohl als auch, weder noch. Im absoluten Verständnis gibt es kein Entstehen, Verweilen und Aufhören von Phänomenen. Direkt vom Beginn des Entstehens an sind sie frei von Wesenheit oder Realität, wie die Erscheinungen in einer Spiegelung. Sie beinhalten weder Existenz noch Nicht-Existenz, es gibt nichts, was akzeptiert werden muß, noch gibt es einen Akzeptanten irgendeiner Existenz. Nichts entsteht oder wird geboren aus einer der vier alternativ möglichen Ursachen des Entstehens: von einem selbst, von anderen, von beiden oder aus der Abwesenheit einer Ursache. Das es kein Entstehen von Phänomenen gibt, enden sie nicht und verweilen auch nicht in ihrer Existenz.

Nagarjuna sagte in seiner Mulamadhyamakakarika I:
Phänomene entstehen nicht aus sich selbst heraus, von anderen,
Von beiden, noch von der Abwesenheit einer Ursache.
Nichts, nirgends
Entsteht je etwas.
Die absolute Natur bedeutet, daß nichts in irgendeiner Form existiert. Indem die Objekte des dualistischen Geistes transzendiert werden, folgt die Untrennbarkeit der beiden Wahrheiten und ursprüngliche Freiheit. Prasangika-Anhänger präsentieren daher keine Theorie, die Unterscheidungen trifft.

KONVENTIONELLE EBENE

Auf der konventionellen Ebene werden drei Aspekte unterschieden, um die philosophische Auffassung, den Weg und das Ziel spirituellen Trainings zu veranschaulichen: sie werden Basis, Weg und Resultat genannt.

DIE BASIS

Die philosophische Auffassung der beiden Wahrheiten ist die Basis. In der philosophischen Auffassung der konventionellen Ebene wird die phänomenale Existenz in zwei Wahrheiten unterteilt, die relative und absolute Wahrheit. Nagarjuna sagte in seiner Mulamadhyamakakarika XIV:
Die Lehre, die die Buddhas dargelegt haben,
Basiert auf den zwei Wahrheiten:
Der relativen Wahrheit
Und der absoluten Wahrheit.

Relative Wahrheit

Die relative Wahrheit ist das Objekt des normalen, das heißt irregeführten Geistes und der Sinneskräfte. Eine Erscheinung, die sich manifestiert, hat keine Essenz oder Wahrheit, aber sie ist insofern wahr, als sie eine bestimmte Rolle für den irregeführten Geist spielt. Die relative Wahrheit ist der gesamte Aspekt der Erscheinungen im Geist zusammen mit dem Anhaften an ihnen als etwas Wahrem. Da sie keine Existenz besitzen, existieren die Phänomene nicht im Sinne von wahr oder falsch, als Illusion oder Nicht-Illusion. Doch weil der Geist die Objekte identifiziert hat und sie benannt hat: das ist eine Fähigkeit, das sind die Sinne, das ist ein Haus, unterscheidet er sie und haftet an ihnen als Subjekt und Objekt. Der objektive Aspekt dieser geistigen Funktionsweise wird relative Wahrheit genannt. Die relative Wahrheit ist charakterisiert durch Phänomene, die als geistige Objekte umschrieben werden und einer Analyse nicht standhalten.

Alle existierenden Phänomene werden durch voneinander abhängige Ursachen erzeugt. Phänomene, die nicht existieren oder von denen angenommen wird, daß sie existieren, oder die vom Geist falsch verstanden werden, werden mit tatsächlich existierenden Phänomenen kontrastiert. Die Wesenheiten entstehen durch voneinander abhängige Kausalität. Die Nicht-Wesenheiten entstehen durch Denkvorgänge, ähnliche wie die kausale Verknüpfung objektiver Phänomene, die als interdependentes Postulat bekannt sind. Gedanken, Ideen, und getäuschte Wahrnehmung – zum Beispiel das Seil, das mit einer Schlange verwechselt wird – sind Produkte des interdependenten Postulats.

Absolute Wahrheit

Die absolute Wahrheit ist die Freiheit von jeglicher detaillierter Ausfeilung und Beurteilung und ist das Objekt selbsterkennender unterscheidender Weisheit. Diese Weisheit ist die ungetäuschte Einsicht, die Worte und Konzepte transzendiert. Buddha sagte:

Transzendierte Weisheit ist jenseits von Konzepten und jenseits von Worten,
Sie ist nicht entstanden und endet nicht, wie die Natur des Raumes,
Sie ist das Objekt selbst-erkennender unterscheidender Weisheit:
Mutter der Buddhas der drei Zeiten, dir erweise ich meine Ehrerbietung.

Diese Selbst-Erkenntnis ist nicht die gleiche wie die der Nur-Geist-(Cittamatrin) Schule, die das Wort im Sinne von gewöhnlichem Geist benutzt.

Absolute Wahrheit ist kein Objekt des Geistes. Shantideva sagte in seiner Bodhicaryavatara IX:

Absolute Wahrheit ist kein Objekt des Geistes;
Der Geist ist relative Wahrheit.

Die absolute Wahrheit ist das ultimative Ziel spirituellen Trainings und sie gilt als Pfad und Resultat spirituellen Trainings und als Errungenschaft.

Die absolute Wahrheit ist der große Frieden, Stillstand, die Natur der Dinge, welche die Objekte des Geistes transzendiert. In ihrer wahren Bedeutung ist die Identität von beiden, den Dingen und der Natur der Dinge gleichermaßen rein, frei und perfekt und sie ist jenseits von detaillierter Ausfeilung oder Beurteilung. Sie ist weit entfernt von geistigen und charakteristischen Referenzen. Diejenigen, die die zwei Wahrheiten realisieren, vervollkommnen den Pfad von dualen Ansammlungen und erlangen Buddhaschaft. Candrakirti sagte in seiner Madhymakavatara VI:

Die Könige der Gänse mit gut entwickelten weißen Flügeln von relativer und absoluter Wahrheit
Begeben sich in die Gesellschaft der Gänse, Wesen und durch die Kraft ihrer Tugend
Fliegen sie über den Ozean der Tugend der Buddhas hinaus.

Aus buddhistischer Sichtweise muß etwas, um real zu sein, sich auf nichts anderes als sich selbst stützen, um existieren zu können. Seine Identität darf nicht von dem Entstehen von etwas anderem abhängig sein. Da wir gezeigt haben, daß Phänomene durch einen Prozeß voneinander abhängiger Kausalitäten entstehen, folgt, daß die Dinge keine >Eigenexistenz< besitzen. Diese Abwesenheit von realer Identität ist ihre Natur und wird Leerheit genannt. Die beiden Wahrheiten sind die Dinge und die Natur der Dinge. Sie kommen nie einzeln vor. Sie sind Leerheit, denn sie entstehen in Abhängigkeit voneinander anstatt unabhängig real zu sein. Wären sie real, gäbe es kein Entstehen und kein Ende. Phänomene entstehen und wirken in Abhängigkeit voneinander, weil sie Leerheit sind. Wären sie nicht Leerheit und irreal, würde nichts entstehen oder enden oder wirken durch voneinander abhängiges Entstehen. Nagarjuna sagte in der Vigrahavyavartanikarika:

Die Phänomene, die in Abhängigkeit voneinander entstanden sind,
Werden als Leerheit bezeichnet.
Was auch immer durch voneinander abhängige Kausalität entstanden ist,
Hat keine Realität.

Beide Wahrheiten sind frei von Realität. In der Madhymakavatara VI heißt es:

Beide Wahrheiten haben keine essentielle Realität,
Somit sind sie weder ewig noch nicht-existent.

Wer die Bedeutung von Leerheit versteht, wird das Gesetz des voneinander abhängigen Entstehens verstehen, wie zum Beispiel das karmische Prinzip. Im Mittelweg sind die beiden Wahrheiten gleich und diese Wahrheit ist die Lehre des Buddhas. In der Vigrahavyavartanikarika heißt es:

Für wen Leerheit möglich ist,
Für den sind alle Bedeutungen möglich.
Für denjenigen, für den Leerheit nicht möglich ist,
Für den ist nichts möglich.
Leerheit und voneinander abhängiges Entstehen
Sind das gleiche auf dem Mittelweg.
Dem, der diese ausgezeichnete Lehre sprach,
dem Buddha, erweise ich meine Ehrerbietung.

Ohne die Bedeutung der beiden Wahrheiten zu kennen, ist es unmöglich, die Lehre des Buddha zu verstehen und zu realisieren. Ohne auf die konventionelle Ebene zu vertrauen, gibt es keine Möglichkeit, die absolute Bedeutung auszudrücken, zu verstehen und das Nirvana zu erreichen. In der Mulamadhyamakakarika XXIV heißt es:

Wer die beiden Wahrheiten nicht kennt,
Kennt nicht die profunde Soheit.
Ohne auf die Konvention zu vertrauen,
Kann die absolute Bedeutung nicht gelehrt oder entdeckt werden.
Ohne die absolute Bedeutung zu verstehen,
kann das Nirvana nicht erlangt werden.

In der absoluten Wahrheit gibt es keine Unterscheidung zwischen Affirmation oder Negation. Jedoch werden diese Unterscheidungen in der relativen Wahrheit beibehalten: wenn man entweder in eine Debatte verwickelt ist über die ultimative Natur oder darüber kontempliert, vertritt man weder eine These noch präsentiert man eine Sichtweise, denn die ultimative Natur ist frei davon, eine Sichtweise zu vertreten oder zu präsentieren. In einer Periode, in der man nicht meditiert, oder wenn man sich mit der konventionellen Welt beschäftigt, sollte man die Details der existierenden Phänomene der relativen Wahrheit, so wie sie in den Schriften gegeben wird, sehen, darüber nachdenken und andere darüber belehren, nämlich daß sie wie ein Traum sind oder wie eine Erscheinung. Diese Erkenntnis der traumgleichen Natur der Dinge wird einem die Augen öffnen zum Pfad der zwei Ansammlungen, und dann wird man die beiden Körper erlangen – den ultimativen Körper und den Formkörper – des erleuchteten Zustands, der Buddhaschaft.

DER PFAD

Der Pfad ist der Weg spirituellen Trainings in den zwei Ansammlungen. Es gibt zwei Arten von Ansammlungen, um das Ziel zu erreichen: die Ansammlung von Verdienst und die Ansammlung von Weisheit. Es ist notwendig, beide Ansammlungen zu vervollkommnen, um die Leerheit zu realisieren und dann die beiden Resultate zu erreichen, die beiden Körper des Buddha. Nagarjuna sagte in der Yuktisastikakarika:

Durch den Verdienst des (Schreibens) dieses (Textes) mögen alle Wesen
Verdienst und Weisheit erwerben und
Mögen sie die beiden ausgezeichneten Körper erlangen ,
Die durch Verdienst und Weisheit erzeugt werden.

Verdienst

Verdienst ist spirituelles Training in geschickten Mitteln basierend auf der Sichtweise der relativen Wahrheit. Es ist das Training in den sechs Perfektionen, welche sind Freigebigkeit, Disziplin, Geduld, Fleiß, Kontemplation und Weisheit.

Weisheit

Weisheit ist das Training, das auf dem Verständnis der Sichtweise der absoluten Wahrheit beruht. Es ist die Meditation über die Einsicht der Weisheit, frei von detaillierter Ausfeilung, und Stillstand des Geistes und der geistigen Vorgänge. Buddha sagte in der Astasahasrika: »O Subhuti! Der Geist ist strahlend in seiner Natur.« In der Ratnavali heißt es:

Die Formkörper der Buddhas
Werden durch die Ansammlung von Verdienst gebildet;
Der ultimative Körper wird kurz gesagt
durch die Ansammlung von höchster Weisheit gebildet.

Als erstes sollte man frei werden von Konzeptualisierungen durch Argumentieren und die Abwesenheit einer Realität erkennen, die Leerheitsnatur aller existierenden Phänomene.

Untersuchen wir zum Beispiel eine Blume: Versuchen Sie herauszufinden und zu beweisen, wie die Blume existiert. Ist die Farbe der Blume die Blume oder ihre Gestalt? Nein, das sind ihre Farbe und ihre Gestalt aber nicht die Blume. Sind die verschiedenen Substanzen die Blume? Nein. Wir werden die Blume nicht finden, selbst wenn wir sie in die kleinsten Partikel zerlegen. Wenn wir sie nicht in den Teilen der Blume finden können, kann sie auch nicht in der Summe jener Teile, einschließlich Farbe, Gestalt und Substanzen gefunden werden. Also gibt es nichts in der Blume, das wir als ihre Existenz identifizieren könnten. Statt dessen haben wir ihre Nicht-Existenz, ihr Nicht-Selbst und die Leerheit der Blume in ihrer wahren Natur bewiesen. Die gleiche Untersuchungsmethode kann auf alle Arten von Materie bis hinunter in die kleinsten Partikel angewandt werden und auf den Geist, selbst in seiner kürzesten Zeitdauer. Deshalb sind Form und die anderen Bestandteile der Existenz Leerheit.

Wie kommt es, daß Phänomene als real und funktionsfähig erscheinen? Die Basis ist Leerheit. Phänomene entstehen und funktionieren als real, wenn sie von normalen Menschen, wie wir selbst wahrgenommen werden. Der Prozeß des Auftauchens aus der Leerheit in offensichtliche Realität findet statt durch die Interdependenz des objektiven Aspekts, den Ursachen und Bedingungen und des subjektiven Aspektes, des dualistischen Denkens, verunreinigter Emotionen und des karmischen Prozesses, der in der Unwissenheit wurzelt. Existente Phänomene entstehen, wenn die ursächlichen Faktoren vollständig sind. Wie zum Beispiel ein Zauberer eine Illusion erschafft. Wenn die Mantras, Substanzen und die Meditation beendet sind, werden die Häuser und Bäume, die durch die magische Kraft gebildet wurden als real erscheinen. Auf die gleiche Art und Weise ist Leerheit Form und so weiter.

Als Resultat des abhängigen Entstehens der phänomenalen Existenz, sind Phänomene irreal und ihre wahre Natur ist Leerheit. Und weil sie Leerheit sind, haben sie die Fähigkeit zu entstehen und zu funktionieren durch abhängiges Entstehen. Auf ähnliche Art und Weise ermöglicht der Raum der Erde und seinen Wesen zu funktionieren. Obwohl die phänomenalen Erscheinungen in ihrer realen Natur nicht wahr sind, erscheinen sie und funktionieren sie als wahr auf der relativen Ebene, welche unwahr ist. Die extreme Sichtweise des Substantialismus wird dadurch vermieden, daß man die Erscheinungen versteht. Denn obwohl die Blume zu existieren scheint, ist sie Leerheit, nicht-existent. Die extreme Sichtweise des Nihilismus wird vermieden, indem man die Leerheit versteht. Denn Leerheit kann als interdependente Entstehung erscheinen. Die Leerheit und die interdependente Entstehung sind untrennbar. Deshalb ist Leerheit nichts anderes als Form und Form nichts anderes als Leerheit. In der Herz-Sutra heißt es: »Form ist Leerheit, Leerheit ist Form, Leerheit ist nichts anderes als Form und Form ist nichts anderes als Leerheit.«

Wenn man diese Kontemplation über Weisheit trainiert, bringt man zuerst seinen Geist zur Ruhe und verweilt dann in der Erfahrung eines Zustands, frei von Gedanken, was als die Sicht der absoluten Wahrheit bezeichnet wird. Während man in diesem Zustand verweilt, hören die Konzepte von Objekten außen und Geist innen auf, erzeugt zu werden. Die Dualität von Objekt und Subjekt ist überwunden. Das heißt die Freiheit von dualen Konzepten und Wahrnehmungen. Zu diesem Zeitpunkt gibt es weder Affirmation noch Negation im Geist, der in Kontemplation ist, und es gibt nichts als Einsicht frei von Ausfeilungen. Es ist die Meditation über die leuchtende Weisheit der selbstunterscheidenden Bewußtheit.

Shantideva sagte in der Bodhicaryavatara IX:

Wenn weder Dinge noch Nicht-Dinge
Vor dem Geist bleiben,
Wird nichts sein –
Es ist der große Frieden oder Stillstand, Freiheit von Konzepten.

Die Tendenzen, die als erstes zum Stillstand kommen durch die Kontemplation auf die Natur der Phänomene, sind das Anhaften an Phänomenen als etwas Realem und Affirmationen und Negationen. Später dann, wird das Festhalten an der Kontemplation über den natürlichen Zustand der Dinge auch aufhören. Zu Anfang kommt die Realisation der Leerheit konzeptuell durch Inferenz und dann in einer totalen, nicht-dualistischen Einsicht.

Die Bodhicaryavatara IX sagt:

Durch die Entwicklung der Erfahrung der Leerheit,
Gib auf die Gewohnheit, Phänomene als real wahrzunehmen.
Durch die Entwicklung der Erfahrung von Nichts,
Wird das (Festhalten an der Leerheit) ebenfalls aufgegeben.

Sobald das Anhaften an ein Selbst und an die Realität der Phänomene aufgehört haben, wird selbst das Konzept eines Gegenmittels gegen diesen radikalen Irrglauben aufhören. Das ist die Konzeption der Leerheit der Phänomene selbst. Sobald diese aufgehört hat, wird der Meditator transzendentale Weisheit erlangen. Buddha sagte in der Aryaprajnaparamitasancayagatha:

Jemand, der frei ist von verschiedenen Konzepten und sich höchsten Friedens erfreut,
Erfreut sich der ausgezeichneten Perfektion der transzendentalen Weisheit.

Unwissenheit macht eine Person zum Objekt der abhängigen Erzeugung von Ursachen und Bedingungen, der Sphäre weltlicher Erfahrung, die nicht endet bevor der absolute Zustand, Buddhaschaft, erreicht ist. Bevor diese Realisation der großen Leerheit oder absoluten Wahrheit erreicht ist, können die Auswirkungen von Karma nie transzendiert werden. Glaube, Freigebigkeit, Liebe und rechtes Verhalten werden die negativen Kräfte in uns befrieden und positive Energie erzeugen, die uns zum perfekten Zustand hin führt. Die Praxis von tugendhaften Taten und Weisheit ist möglich durch das dynamische Muster der interdependenten Ursachen.

RESULTAT

Das Resultat sind die beiden Körper des Buddhas. Durch den Prozeß des Trainings auf dem Pfad, werden der Geist und die geistigen Vorgänge, die Ursache von Samsara, in die ultimative Sphäre (Dharmadhatu) aufgelöst. Zum Zeitpunkt der Erleuchtung erhält man für sich selbst den ultimativen Körper (Dharmakaya). Für die anderen erscheinen die Formkörper (Rupakaya) spontan, wie die Reflektion des Mondes im Wasser, bis Samsara geleert ist. Sie erscheinen gemäß den Wünschen, die man gemacht hat während des Trainings auf dem Pfad, und gemäß den karmischen Verbindungen der Wesen.

In der Madhyamakavatara XI heißt es:

Das Ende [das aus dem] Verbrennen
Des gesamten Brennstoffes der Wesenheiten, die man kennen kann [resultiert],
Ist der ultimative Körper des Siegreichen.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es weder Geburt noch Tod.

Und

Der Körper des Friedens strahlt aus wie ein wunscherfüllendes Juwel.
Bis die fühlenden Wesen befreit sind, erscheinen die Geschenke für die Welt
[Die Ausstrahlungen des Friedens] ewig, ohne Konzepte.

In der Bodhicaryavatara IX heißt es:

Wunscherfüllende Bäume und wunscherfüllende Juwelen
Erfüllen Wünsche vollständig:
Gleichermaßen erscheinen für die Schüler die Körper der Siegreichen
Aufgrund ihrer Wünsche.

Shantideva illustriert noch weiter das Prinzip erleuchteter Taten, die die Wünsche der Wesen erfüllen ohne geistige Konzepte und Anstrengung, sondern allein durch die Kraft der Wünsche in der Vergangenheit. Er erzählt die Geschichte eines Brahmins namens Shanku. Dieser Brahmin segnete eine Reliquie eines Garuda, einer Gottheit in Form eines heiligen Vogels. Selbst nach dem Tode des Brahmins, war diese Reliquie noch für lange Zeit wirksam und neutralisierte Gifte.

In der Bodhicaryavatara IX heißt es:

Zum Beispiel die Garuda Reliquie, die [Shanku] weihte, und dann starb [er] vor langer Zeit,
Trotzdem blieb sie wirksam, indem sie Gifte usw. neutralisierte.
Ebenso erreicht man, wenn man in Einklang mit den Taten eines Bodhisattvas handelt,
Die Reliquie [die Körper] der Buddhas.
Obwohl der Bodhisattva jetzt jenseits des Leidens [der Welt] ist,
Erfüllt er alle Ziele [die Wünsche der Wesen].
entnommen aus
“Die verborgenen Schätze Tibets, Eine Erklärung der Termatradition der Nyingma-Schule des Buddhismus”
von Tulku Thondup
mit freundlicher Genehmigung des Theseus Verlag, Berlin, erschienen 1994.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jomo Gudrun.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: “Hidden Teachings of Tibet, An Explanation of the Terma Tradition of the Nyingma School of Buddhism” erschienen 1986 bei Wisdom Publication, Boston, USA