Versteht man die philosophische Sichtweise von Madhyamika, wird es einfach, die Sichtweise, das Ritual, Training und die Kultur der verschiedenen Stufen der tantrischen Schriften, die in den Termas gelehrt werden, zu verstehen.
Das Training in den tantrischen Belehrungen des Buddhismus, der esoterische Pfad, bekannt als Vajrayana, verläßt sich nicht auf intellektuelle Argumente oder auf eine Weisheit, die durch Analyse produziert wurde. Der ultimative Körper wird direkt erreicht durch die Übertragung einer Einweihung und die geschickten Mittel der Kanäle, der Energie und Essenz des Vajra-Körpers. Durch diese Mittel halten die Praktizierenden ihren Geist natürlich in der übertragenen Realisation. Sie sehen das wahre Gesicht der absoluten Natur. Dann bringen sie diese Realisation durch Training innerhalb kürzester Zeit zur Perfektion, der Einheit von Glückseligkeit und Leerheit, einem völlig erleuchteten Zustand.
Im sutrischen Training folgen die Praktizierenden dem Pfad des Trainings in den zwei Ansammlungen, was das Erreichen des letztendlichen Zieles, die beiden Körper des Buddhas zur Folge hat. In tantrischen Belehrungen werden die beiden Wahrheiten als gleich angesehen, rein und unteilbar. Long chen Rab jam sagt in seiner Padma Kar po:
Die tantrische [esoterische oder ultimative] Essenz mit all ihren Tugenden wohnt allen lebenden Wesen spontan inne und ist die Basis der Reinigung, wie die Sonne selbst. Die acht Bewußtheiten, einschließlich des universellen Grundes, welche die Natur von Samsara sind, sind diejenigen, die zu reinigen sind, wie Wolken, die (die Sonne) verdunkeln. Einweihungen und schrittweises Training in der Entwicklungs- und Perfektionsphase reinigen [sie], wie Wolken, die sich auflösen. Zu Anfang lassen sie die Tugenden aufgehen und als Resultat dieser Reinigung wird der universelle Grund verwirklicht, so wie die Sonne strahlend scheint. |
Im Tag nyi Tantra heißt es:
Alle lebenden Wesen sind gleich dem wahren Buddha,
Doch sie sind verdunkelt durch zufällige Verunreinigungen.
Wenn die Verdunkelung entfernt wird, sind sie gleich dem wahren Buddha.
Sutrische und tantrische Belehrungen sind gleich, insofern sie beide zum erleuchteten Zustand führen, doch die Mittel, die während des Trainings benutzt werden, sind voneinander verschieden.
Tantrische Nyingma-Schriften unterteilen die tantrischen Belehrungen in die drei äußeren Tantras und die drei inneren Tantras. In der Sichtweise der drei äußeren Tantras wird eine Unterscheidung getroffen zwischen den beiden Wahrheiten, welche aufeinander folgen und voneinander getrennt sind.
ÄUSSERE TANTRAS
Die grundlegende Sichtweise der drei äußeren Tantras ist wie folgt:
Kriyayoga
Absolut gesehen, sind alle existenten Phänomene gleich, da sie die untrennbare Natur der zwei Wahrheiten, Erscheinung und Leerheit besitzen. Doch relativ gesehen, werden die Gottheiten als Herren angesehen und man selbst als ein Verehrer. Und das esoterische Training des Kriyayoga wird dementsprechend verfolgt.
Caryayoga
Die Sichtweise ist die gleiche wie im Kriyayoga, doch in der Trainingsmethode werden die Gottheiten als einem selbst gleichgestellt angesehen.
Yogatantra
Absolut werden die Phänomene als die leuchtende Natur angesehen, frei von Ausfeilungen, die Weisheit der Realisation der Leerheit. Wegen dieser Realisation visualisieren die Praktizierenden in der relativen Wahrheit sich selbst in der Form der Gottheit und verschmelzen dann mit ihr, so “wie Wasser in Wasser fließt” und werden somit zur Gottheit selbst.
INNERE TANTRAS
In den inneren drei Tantras sehen die Praktizierenden sowohl die beiden Phasen als auch die beiden Wahrheiten als untrennbar und gleichzeitig an.
Mahayoga
Die beiden höchsten Wahrheiten verweilen untrennbar als der höchste ultimative Körper. Die Sichtweise der beiden Wahrheiten ist in der höchsten relativen Wahrheit, daß alle Erscheinungen, das heißt alle Phänomene von Anbeginn an die dreifache Vajra-Natur haben – den Vajra-Körper, die Vajra-Rede und den Vajra-Geist der Buddhas – und von Natur aus leer sind. In der höchsten absoluten Wahrheit haben alle Phänomene die Natur nicht-existierender Leerheit, die Untrennbarkeit der Körper und Weisheit der Buddhas.
Anuyoga
Alle Phänomene der zwei Kreise (Mandala) von Wahrheit verweilen gleichermaßen in der untrennbaren Natur als Großer Seliger Sohn, das Mandala des erleuchteten Geistes. Die beiden Kreise werden folgendermaßen erklärt: alle erscheinenden Phänomene (relative Wahrheit) sind Samantabhadra, das Mandala der spontanen Erfüllung. Ihre Natur (absolute Wahrheit) ist Leerheit, frei von allen Extremen. Diese Leerheit ist Samantabhadri, das Mandala der Soheit.
Atiyoga
In Atiyoga oder Mahasandhi wird eine hochintelligente und fähige Person direkt in die ultimative Natur des Geistes, die Buddhanatur, eingeführt. Danach erlangt er oder sie durch meditatives Training innerhalb kürzester Zeit Erleuchtung. Da die ultimative Natur des Geistes die gleiche erleuchtete Natur oder ultimative Sphäre aller möglichen Phänomene besitzt, ist es nicht nötig, auf die verschiedenen Aspekte der Phänomene zu meditieren oder sie alle zu realisieren. Aus der Sichtweise des Atiyoga war keines der existierenden Phänomene des sogenannten Samsara und Nirvana je von der ultimativen Sphäre oder der ultimativen Natur des Geistes abgekommen. Alle Phänomene bleiben innerhalb der Natur des großen Mandalas, des ultimativen Körpers, der spontan entstandenen Weisheit, anstrengungslos und unveränderlich. So ist die ultimative Natur von Samsara und Nirvana nicht-existent oder leer. Diese ultimative Sphäre wird durch drei Aspekte erklärt: ihre Essenz ist Leerheit, der ultimative Körper (Dharmakaya); ihre Natur ist Klarheit, der Freudenkörper (Sambhogakaya); und ihr Mitgefühl oder ihre Kraft ist alles-durchdringend, der sich manifestierende Körper (Nirmanakaya). Kun khyen Jig med Ling pa sagte in seiner Yon ten Rin po che’i Dzod:
Die Phänomene von Samsara und Nirvana
Sind nie von der ultimativen Sphäre abgekommen, welche unveränderlich ist.
Die Nicht-Existenz von Samsara und Nirvana ist die ultimative Natur des Grundes.
Es ist auch die Perfektion der Essenz, der Natur und des Mitgefühls.
Lo chen Dharmashri sagte in seiner Sang dag zhal lung:
In Mahayoga realisiert man alle Phänomene als das magische Spiel des
ultimativen Geistes, der Untrennbarkeit von Erscheinung und Leerheit. In
Anuyoga realisiert man alle Phänomene als manifestierende Kraft des
ultimativen Geistes, die Untrennbarkeit der ultimativen Sphäre und
Weisheit. In Atiyoga realisiert man alle Phänomene als Erscheinungen des
ultimativen Geistes aus sich selbst, die spontan entstandene Weisheit,
welche von Anfang an frei ist von Entstehen und Stillstand.
In der Mahayana-Sichtweise sind Dharmabelehrungen wie die Termas gesegneter Ausdruck, Klang und Worte, die spontan entstanden sind aufgrund der Wünsche, die von Bodhisattvas gemacht wurden, als sie sich selbst noch auf dem Trainingspfad befanden. Aufgrund der karmischen Beziehungen der Wesen, werden die Belehrungen gehört und als die relative Wahrheit erkannt werden, zur rechten Zeit, wenn die Ursachen und Bedingungen vollkommen sind. Trotzdem wurden jene Belehrungen in der absoluten Wahrheit niemals von einem erleuchteten Wesen zu irgendeiner Zeit als ein Konzept dargelegt. In der Lankavatara-Sutra sagte der Buddha:
Um die lebenden Wesen zum Verständnis zu führen,
habe ich die verschiedenen Fahrzeuge gelehrt:
Doch verfolgte (ich) dabei kein Konzept (der Belehrungen).
Do de yong su kod pa sagt:
Ohne etwas zu lehren,
Erscheinen die Belehrungen durchdringend für die Wesen.
Wenn sie schrittweise vorgehen wollen,
Erhalten sie [die Belehrungen] entsprechend.
Für diejenigen, [die] sofortiges Training [wünschen],
Erscheinen die Belehrungen [in einem Augenblick].
Das ist die Großartigkeit der Rede [der Buddhas],
Welche die Wünsche [der Wesen] erfüllt.
entnommen aus
“Die verborgenen Schätze Tibets, Eine Erklärung der Termatradition der Nyingma-Schule des Buddhismus”
von Tulku Thondup
mit freundlicher Genehmigung des Theseus Verlag, Berlin, erschienen 1994.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jomo Gudrun.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: “Hidden Teachings of Tibet, An Explanation of the Terma Tradition of the Nyingma School of Buddhism” erschienen 1986 bei Wisdom Publication, Boston, USA