1. Tulku Thondup Rinpoche zum Thema: Termas

In der Weltgeschichte gibt es viele Beispiele, wie Schriftstücke und materielle Objekte auf wunderbare Art und Weise entdeckt wurden, durch die Macht von Geistern, nicht-menschlichen Wesen und manchmal durch psychische Kräfte von besonders begabten Menschen. Termas sind ein verwandtes Phänomen. Es sind Schriftstücke, die absichtlich versteckt wurden und nacheinander zu geeigneten Zeitpunkten von realisierten Meistern durch deren erleuchtete Macht wiederentdeckt wurden. Termas sind Belehrungen, die eine höchst tiefgehende, authentische und machtvolle tantrische Form des buddhistischen Trainings vertreten. Hunderte von Tertons, die Entdecker der Dharma-Schätze, haben tausende von Schriftbänden und heiligen Objekten gefunden, die in der Erde, im Wasser, im Himmel, in den Bergen, in Felsen und im Geist versteckt waren. Durch die Praxis dieser Belehrungen haben viele ihrer Anhänger vollständige Erleuchtung, Buddhaschaft erlangt.

Verschiedene Schulen des Buddhismus in Tibet haben Termas, doch die Nyingma-Schule hat die reichste Tradition. Diese Schule wurde im neunten Jahrhundert durch Guru Padmasambhava in Tibet gegründet und durch die Kraft des Weisheitsgeistes dieses Heiligen und seiner erleuchteten Schüler werden diese esoterischen Belehrungen überliefert. Das Buch „Die Verborgenen Schätze Tibets“ von Tulku Thondup enthält einen Text, der vom Dritten Dodrup Chen Rinpoche (1865-1926) geschrieben wurde, einem der größten Gelehrten der Nyingmapa-Schule. Er erklärt Aspekte und Stadien des Vorgangs des Verbergens und der Wiederentdeckung von Termas. Er liefert eine einzigartige Analyse der Weisheitsübertragung , die durch diese Art von heiliger Literatur vertreten wird.

Die Nyingma-Schule ist die älteste, die Mutterschule des tibetischen Buddhismus. Nyingma-Texte setzen sich zusammen aus dem Kanon der sutrischen und tantrischen Belehrungen und ihren umfassenden Kommentaren und der faszinierenden und beliebten schriftlichen Tradition, den Terma-Belehrungen. Es gibt tausende von Bänden von Termatexten, die von hunderten von Tertons seit dem 11. Jahrhundert bis zum heutigen Tage gefunden wurden. Die Terma-Tradition macht einen Hauptaspekt der Belehrungen und der Praxis der Nyingmapa aus, daher ist es wichtig für diejenigen, die am Buddhismus und speziell der Nyingma-Linie interessiert sind, zu verstehen, was Termas sind.
Die Tradition dieser wiederentdeckten Dharma-Schätze muß im Zusammenhang mit sowohl sutrischem als auch tantrischem Buddhismus gesehen werden, so daß jemand, der neu ist in diesem Feld, genau verstehen kann, wie sie sich hier einfügen und wie sie gebraucht werden. …
Die Belehrungen des Buddha werden in der Regel in zwei Klassen unterteilt: in Hinayana und Mahayana und ebenso in drei Fahrzeuge, oder Yanas: 1. Sravakayana oder das Fahrzeug der Hörer oder Schüler; 2. Pratyekabuddhayana oder das Fahrzeug der Stillen Buddhas oder Selbst-Buddhas; und 3. Bodhisattvayana, das Fahrzeug derjenigen, die nach Erleuchtung streben. Eigentlich gehören die beiden ersten zum Hinayana und das letzte ist Teil des Mahayana. Heute jedoch ist die geläufigste Unterteilung in die drei Fahrzeuge Hinayana, Mahayana und Vajrayana oder Tantrayana, welches die esoterischen oder inneren Belehrungen des Mahayana-Buddhismus sind. Diese werden nun in den folgenden Kapiteln besprochen.
entnommen aus
„Die verborgenen Schätze Tibets, Eine Erklärung der Termatradition der Nyingma-Schule des Buddhismus“
von Tulku Thondup
mit freundlicher Genehmigung des Theseus Verlag, Berlin, erschienen 1994.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jomo Gudrun.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Hidden Teachings of Tibet, An Explanation of the Terma Tradition of the Nyingma School of Buddhism“ erschienen 1986 bei Wisdom Publication, Boston, USA


2.a Tulku Thondup Rinpoche zum Thema: Hinayana

Bezeichnend für den Hinayana-Weg ist die Absicht, sich selbst zu befreien. Sein kanonischer Teil ist in Sanskrit bekannt als Tripitaka, die drei Körbe: Vinaya oder der Kodex moralischen Verhaltens, hauptsächlich für Mönche und Nonnen; die Sutras oder Abhandlungen über verschiedene Arten spirituellen Trainings; und der Abhidharma, die Schrift über Weisheit, Philosophie und Psychologie. Diese Texte konzentrieren sich auf die Methoden, Arhatschaft zu erlangen, das Ende von Leiden und seinen Ursachen. Sie enthalten auch geistiges Training in Kontemplation und Weisheit oder Einsicht. Die Hauptbetonung liegt jedoch auf Formen physischer Disziplin und einem einsamen, isolierten Leben, um Situationen zu vermeiden, die emotionale Verunreinigungen erzeugen könnten. Diese physische Distanz schützt den Geist davor, unter den Einfluß untugendhafter Kräfte oder negativer Energien zu geraten.
Innerhalb des Hinayana-Ordens gibt es zwei Hauptschulen religiöser Philosophie:
Hinayana:
Vaibhashika (18 Schulen)
Sautrantika

2.b Tulku Thondup Rinpoche zum Thema: Mahayana

Besonders charakteristisch für Mahayana ist die Absicht, das Streben und die Praxis, das Glück und die Befreiung anderer zu erreichen; nicht nur für sich selbst, was eine egoistische Einstellung ist, die überwunden werden muß. Die Mahayana Schriften, die sich mit dem Verhaltenskodex und vielen anderen Aspekten des Trainings befassen, sind gleich wie im Hinayana, doch unterscheiden sie sich in ihrer Auslegung. Abgesehen von diesen gemeinsamen Gebieten, gibt es eine gewaltige Anzahl kanonischer Schriften über geistige Kontemplation und Weisheit, wie zum Beispiel die Mahayana-Sutras, die die Prajnaparamita enthalten. Im Mahayana-Training ist der wichtige Aspekt des Trainings, ganz egal was man tut und wo man ist, die Entwicklung des mitfühlenden Strebens nach dem Wohlergehen der anderen. Somit liegt die Hauptbetonung des Mahayana auf der geistigen Einstellung, wohlwollende Gedanken für andere zu hegen. Meditation, Kontemplation und Weisheit und physische Disziplin werden als Hilfsmittel angesehen, um diese essentielle Geisteshaltung aufrecht zu erhalten. Wenn dein Geist mit Mitgefühl für andere Wesen gefüllt ist, kannst du nichts tun, das sie verletzen könnte. Selbst wenn du eine Tasse Tee trinkst, trinkst du sie nicht, um deine Gier zu befriedigen, sondern um den Körper zu stärken, ihn zu erhalten als Werkzeug, um anderen dienen zu können. Diese erleuchtete Geisteshaltung wird Bodhicitta genannt. Und wenn solch eine Geisteshaltung entwickelt wird und nicht nachläßt oder zerstört wird, dann bist du ein Bodhisattva, ein Wesen auf dem Weg zur Erleuchtung. Mit dieser Art Geisteshaltung kann man sein Alltagsleben in tugendhafte Handlungen umwandeln, die Ursache für Erleuchtung.
Innerhalb des Mahayana-Fahrzeuges gibt es drei Haupschulen:
Mahayana:
Madhyamika
Prasangika
Svatantrika
Cittamatrin (Yogacarin)
Vajrayana
sechs (vier) Tantras 

2.c Tulku Thondup Rinpoche zum Thema: Vajrayana

Besonders charakteristisch für das Vajrayana ist die reine Wahrnehmung. Durch eine Ermächtigung/Einweihung, die durch einen tantrischen Meister gegeben wurde, sieht und aktualisiert man die Welt als ein reines Land und die Wesen als erleuchtete Wesen. Durch die Kraft oder Weisheit, die in der Einweihung übertragen wird und die außergewöhnlich geschickten Mittel der Kanäle, Energien und der Essenz des Vajrakörpers, erzeugen Tantriker die Erfahrung der wunderbaren Vereinigung von Glückseligkeit und Leerheit und diese Errungenschaft bringt den Geist zwangsläufig zur Realisation. In tantrischer Praxis gibt es nichts, das vermieden oder zerstört werden muß, vielmehr wird alles als Umwandlungsbrennstoff der Weisheit benutzt, die wunderbare Vereinigung von Glückseligkeit, Klarheit und Leerheit selbst. Im gemeinen Mahayana verwandeln die Praktizierenden das alltägliche Leben in spirituelles Training durch die rechte Geisteshaltung, die Absicht, anderen zu nutzen. So wird das alltägliche Leben in tugendhafte Praxis verwandelt, die Ursache für Erleuchtung. Im Tantra jedoch verwandelt man alles in Weisheit selbst, welche das Resultat oder das Ziel des Weges ist. Deshalb ist Vajrayana als das Fahrzeug des Resultats bekannt, da es das Resultat selbst als Trainingsmethode benutzt.
Obwohl die drei Fahrzeuge verschiedene Praxismethoden anwenden, ist ihr gemeinsames Ziel, die Befreiung aus Samsara zu erlangen. Als Resultat der Hinayanapraxis erreicht man Arhatschaft, den Status, in dem man den Feind oder Verunreinigungen besiegt hat. Als Resultat der Mahayana- und Vajrayanapraxis erlangt man Buddhaschaft, die vollkommene Erleuchtung, die die drei Körper und fünf Weisheiten besitzt.
Gemäß der Nyingmapa-Tradition gibt es innerhalb des Vajrayana sechs Haupttantras .
Vajrayana:
drei äußere Tantras
Kriyayoga
Caryayoga
Yogatantra
drei innere Tantras
Mahayoga
Anuyoga
Atiyoga

Ein Beispiel wird die verschiedenen Charakteristika, die die Praxismethoden der drei Fahrzeuge unterscheiden, verdeutlichen.
Die emotionalen Verunreinigungen sind wie ein giftiger Baum. Hinayana-Anhänger sind wie diejenigen, die sich vor dem giftigen Baum schützen, indem sie ihm aus dem Weg gehen. Mahayana-Anhänger sind wie diejenigen, die sowohl sich selbst als auch andere vor dem giftigen Baum schützen, indem sie ihn von der Wurzel an zerstören. Vajrayana-Anhänger sind wie diejenigen, die anstatt ihre Energie und ihr Potential damit zu verschwenden, dem giftigen Baum auszuweichen oder ihn zu zerstören, ihn mit geschickten Mitteln in einen heilkräftigen Baum umwandeln und ihn dann benutzen.
Diese verschiedenen Wege spirituellen Trainings führen zur Befreiung aus Samsara, was die relative Wahrheit ist. Ihre Absicht ist die vollständige Erleuchtung , die absolute Wahrheit zu erreichen oder zu ihr hinzuführen.
Das Mittel zur Befreiung ist das Verständnis der voneinander abhängigen Ursachen. Es ist Buddhas Interpretation von Karma, dem Gesetz von Ursache und Wirkung der Handlungen, welches die physischen und ethischen Bedingungen schafft, in denen die lebenden Wesen sich befinden. Indem wir den dynamischen Prozess der ineinandergreifenden Ursachen verstehen und benutzen, um uns von der relativen Wahrheit zu befreien, kann die absolute Wahrheit, in der Karma nicht mehr zur Wirkung kommt, erreicht werden.
Ohne diese konventionellen Wege spirituellen Trainings zu benutzen, um sich von den ursächlich voneinander abhängigen Faktoren zu befreien, die innerhalb der relativen Wahrheit wirken, ist es nicht möglich, das Nirvana zu erreichen, das Ende von Leiden, das jenseits ist von der Ebene der relativen Wahrheit. Die Beziehung zwischen den beiden Wahrheiten ist entscheidend für die Möglichkeit zur Erleuchtung.
entnommen aus
„Die verborgenen Schätze Tibets, Eine Erklärung der Termatradition der Nyingma-Schule des Buddhismus“
von Tulku Thondup
mit freundlicher Genehmigung des Theseus Verlag, Berlin, erschienen 1994.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jomo Gudrun.
Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Hidden Teachings of Tibet, An Explanation of the Terma Tradition of the Nyingma School of Buddhism“ erschienen 1986 bei Wisdom Publication, Boston, USA